Zahl der älteren Migranten in Deutschland steigt weiter an – Es fehlt an geeigneten Betreuungsmaßnahmen

15. Oktober 2008 | Von | Kategorie: Gastbeiträge, Leitartikel | 3 Kommentare |

Die durch die Arbeitsmigration nach Deutschland zugewanderten jungen und kräftigen „Gastarbeiter“ der ersten Generation werden zunehmend älter. Eine natürliche Entwicklung, die bei ihrer Anwerbung weder von ihnen, noch von den Anwerbern in Betracht gezogen worden ist. Beide gingen vielmehr von der Rückkehr in die Heimatländer aus. Es waren nicht nur die Bezeichnungen für diese „Arbeitskräfte“, die sich im Laufe der Zeit geändert haben; zunächst waren sie Fremdarbeiter, dann Gastarbeiter, später ausländischer Arbeitnehmer oder Migrant und mittlerweile auch häufiger Staatsbürger mit Migrationshintergrund. Auch ihre Kraft und ihre Leistungsfähigkeit hat sich geändert. Kurz: aus den jungen „Gastarbeiten“ von damals sind heute Senioren mit Migrationshintergrund geworden.

Copyright Flickr.com - http://flickr.com/photos/davidden/2481066381/

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Viele Protagonisten der ersten Generation haben den Rückkehrgedanken nie wirklich aufgegeben. Aber aus den drei bis fünf Jahren, die man in der „Fremde“ bleiben wollte, wurden spätestens mit dem Familiennachzug Jahrzehnte. Die Rückkehr erschien nur noch im Seniorenalter möglich – wenn alle Kinder auf eigenen Füßen im jeweils eigenen Haushalt stehen konnten. Dann würde man sich in der „Heimat“ zur Ruhe setzen. Der starken Bindung, die man zu Deutschland, gerade auch durch die Kinder und durch das soziale Umfeld entwickelt hatte, wurden sich die meisten erst bewusst, als das Rentenalter näher rückte. So überrascht es nicht, dass die über 65-jährigen in der Statistik der Abwanderer aus Deutschland nicht besonders hervortreten. So sind nur 11,6 Prozent der türkischstämmigen Abwanderer über 65 Jahre alt. Selbst wenn sie es wollen, können die meisten nicht mehr zurück in die „Heimat“.

Bewusst wurde diese unabwendbare Entwicklung bei der Anwerbung keinem, weder den vor 30 oder 40 Jahren Einreisenden, noch den Aufnehmenden. Dennoch sind heute in Deutschland 1,8 Millionen der Menschen mit Migrationshintergrund mittlerweile über 60 Jahre alt. Die Hälfte davon dürften Muslime sein; ein Großteil dieser wiederum türkischer Herkunft. Angesichts dieser Zahlen verwundert es nicht, dass das Thema „Senioren mit Migrationshintergrund“ immer mehr Beachtung findet.

„Ältere Menschen mit Migrationshintergrund als Handlungsfeld für Kommunen“

Besonders in den Kommunen scheint das Bewusstsein für dieses Thema gestiegen zu sein. Der Deutsche Städtetag zeichnete diese demographische Entwicklung unter der Überschrift „Den demographischen Wandel gestalten: Ältere Menschen mit Migrationshintergrund als Handlungsfeld der Kommunen“ in einer Tagung zusammen mit der Bertelsmann Stiftung nach. In vielen Städten gebe es bereits spezifische Angebote für ältere Migrantinnen und Migranten, stellte der Vorsitzende des Deutschen Städtetags, Dr. Stephan Articus fest. „Angesichts der demographischen Entwicklung und der steigenden Zahl von älteren Migranten geht es darum, passgenaue Konzepte zu entwickeln, damit die Menschen mit Migrationshintergrund auch im Alter am gesellschaftlichen und sozialen Leben teilhaben können“, sagte Articus weiter.

Während die Schwierigkeiten des Alterns keinen Unterschied vor deutschstämmigen Senioren oder Senioren mit Migrationshintergrund machen, sind es die Rahmenbedingungen, die immer wieder Probleme bereiten. 95,8 Prozent der türkischstämmigen Senioren in der Altersgruppe 65 bis 79 Jahren stufen ihre Deutschkenntnisse als „gar nicht bis nur mittelmäßig vorhanden“ ein. Bei den 55 bis 64 jährigen ist die Lage nicht wesentlich besser. 85,7 Prozent haben große Sprachdefizite (RAM 2006/2007). Für viele dieser Senioren sind Altersbetreuungsmaßnahmen, die keine Bilingualität vorsehen, schon wegen der nötigen Verständigungsmöglichkeiten keine wirkliche Option.

Selbst im Alter in Deutschland

Es sind jedoch nicht nur Sprachprobleme, die die Wahrnehmung von Betreuungsangeboten im Alter erschweren, sondern auch die begrenzten finanziellen Möglichkeiten. So mussten im Jahr 2006 13 Prozent der über 65-jährigen ohne deutsche Staatsbürgerschaft Grundsicherungsleistungen beziehen. Bei deutschen Staatsbürgern waren es nur zwei Prozent. Während im Jahre 2002 in Deutschland geborene Rentner im Schnitt 868 € Rente im Monat bekommen haben, standen Zuwanderern aus der Türkei im Rentenalter nur 682 € zur Verfügung (Quelle: DIW Berlin). Die Nutzung von Angeboten im Alter hängt somit nicht nur vom Willen der Betroffenen und dem Vorhandensein der Angebote an sich ab, sondern auch vom Portemonnaie der Senioren oder ihrer Familien.

Dass der Bedarf nach Betreuung im Alter auch bei Migranten vorhanden ist, zeigen die Initiativen, die es trotz der grundsätzlichen Vorbehalte gegen den Heimaufenthalt in einigen Großstädten gibt. Ob es nun das „Türk Bakim Evi“ in der Hauptstadt ist, oder das „Interkulturelle Altenhilfezentrum Victor-Golanz-Haus“ in Frankfurt, die Nachfrage ist da.

Institutionelle Bemühungen in der Seniorenarbeit

Die Zahl der Initiativen im Bereich der Altenhilfe ist in den letzten Jahren merklich gestiegen. So wurde schon im Jahr 2002 das Memorandum für eine „kultursensible Altenhilfe“ initiiert, zu dem sich bisher über 160 Verbände verpflichtet haben. Die daraus entstandene Kampagne „Kultursensible Altenhilfe“ wird heute im Rahmen eines Forums weitergeführt. Das Forum informiert Institutionen und Einrichtungen, die im Bereich der Altenhilfe auf die kulturellen Bedürfnisse der Betroffenen Wert legen.

Erschwert wird die „kultursensible Altenhilfe“ jedoch oftmals durch die die fehlende Vernetzung von kommunalen Einrichtungen und Einrichtungen freier Träger wie Caritas und Diakonie mit Migrantenselbstorganisationen. Eine Hürde dabei ist sicherlich, dass die Seniorenarbeit in Migrantenselbstorganisationen bisher kaum wahrgenommen wird. Damit treten diese Institutionen aber auch nicht als mögliche Partner in der öffentlichen Wahrnehmung hervor. In der Regel sind es bisher nur auf Migranten spezialisierte Anbieter von Altenhilfe, die sich zwangsläufig auch mit der Migranten-Community vernetzen.

Bisher fehlt es zwar noch einer tatsächlichen Annäherung. Der Weg dahin scheint jedoch nicht verschlossen. Die BAGSO e. V. (Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen) und die NAKOS (Nationale Kontaktstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen) sind nur zwei der größeren Akteure, die bereits ihre Bereitschaft zur Öffnung für Migrantenselbstorganisationen bekundet. Andere werden sicherlich folgen. Nun liegt es bei den Migrantenorganisationen, diese Angebote auch wahrzunehmen.

Abdulgani Karahan РK̦ln, 14.10.2008

3 Kommentare
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  1. Sehr geehrter Herr Karahan,
    Lieber Damen und Herren des jurblog,

    vielen Dank für den guten Artikel, der auf einen wachsenden Bedarf und auch auf die Arbeit des „Forums für eine kultursensible Altenhilfe“ (Siehe Website) aufmerksam macht.
    Dürfen wir zu diesem Artikel eine Verlinkung herstellen?

    Uri Kuchinsky
    Forum für eine kultursensible Altenhilfe

  2. @ Uri Kuchinsky:

    vielen Dank vorab für die netten Zeilen. Selbstverständlich dürfen Sie diesen Artikel verlinken. Den Autor des Artikels werde ich auf Ihr Kommnetar aufmerksam machen.

    Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit!

  3. Sehr geehrter Herr Senol,

    Danke für diesen sehr wichtigen und interessanten Beitrag zu einem Thema, zu dem ich immer noch viel zu wenig im Netz finde! Sicherlich auch interessant wird die Entwicklung der nächsten Jahre, wenn die Zahl der Migrantensenioren nämlich relativ stark ansteigt. Dann wird sich zum einen zeigen, ob es uns gelingt, geeignete Angebote für diese Menschen zu entwickeln und zum anderen, ob wir Mittel und Wege finden, Sie von selbigen auch wirklich zu überzeugen. Es sind nämlich nicht nur sprachliche Defizite und finanzielle Sorgen, welche ältere Migranten von Angeboten der Altenhilfe abhält. Eine institutionalisierte Altenhilfe ist vielen dieser Menschen ganz und gar fremd. Unterstützung im Alter verbinden sie traditionell vor allem mit ihren nächsten Angehörigen – dem Kreis der Familie. Da diese als zweite und dritte Generation in den meisten Fällen nicht fähig – und auch nicht besonders willens – sind, Mutter und Vater selbst zu versorgen, droht bei allen Bemühen von öffentlicher Seite oftmals dennoch persönliches Leid und bittere Entäuschung. Die angesprochene kulturell-sensitiven Betreuung – die ich ausdrücklich begrüße – darf uns nie über ein fundamentales Problem hinwegtäuschen: Nämlich dass sich eine kulturell geprägte Erwartungshaltung in vielen Fällen an die eigenen Familie richtet und nicht an Dritte. Im Bewusstsein, diese komplizierte Problematik mit allen Beteiligten offen zu thematisieren und in einem zweiten Schritt geeignete Alternativen anzubieten, können – und müssen – wir den oben skizzierten Weg weitergehen.

    Danke und Herzliche Grüße aus Heidelberg.

 

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