Die Einbürgerungsstatistik und das Integrations- und Einbürgerungsverständnis der Union

16. Juni 2009 | Von | Kategorie: Leitartikel, Politik | 7 Kommentare |

Im vergangenen Jahr wurden rund 95 500 Menschen eingebürgert. Das waren gut 18 600 Einbürgerungen weniger als im Vorjahr – ein Minus von 16 Prozent. Damit fiel die Zahl der Einbürgerungen auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Dies teilte das statistische Bundesamt am vergangenen Freitag mit.

Ein schwarzer Tag für die Integrationspolitik der Union, die Einbürgerung als die „Vollendung des Integrationsprozesses“ versteht. Folgt man diesem Integrations- und Einbürgerungsverständnis, stehen wir heute da, wo wir bereits vor 19 Jahren standen. Heute „vollenden“ genauso viele Menschen den „Integrationsprozess“ wie zu Zeiten Helmut Kohls.

Doppelte Staatsbürgerschaft

Doppelte Staatsbürgerschaft

Eine Zeit, wo das Ausländergesetz noch Ausländergesetz hieß und das Wort „Integration“ mehr ein Fachbegriff war als ein Staatsziel und Chefsache. Eine Zeit ohne Integrationsgipfel und „nationalem Integrationsplan“ oder dem „Integrations-Indikatorenbericht. Eine Zeit, in der die Bezeichnung „Einwanderungsland“ Tabu war und man von Gastarbeitern redete, wenn man Ausländer meinte.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich viel verändert. Heute spricht die Bundeskanzlerin politisch korrekt von Menschen mit Migrationshintergrund, teilt ihnen mit – wenn auch reaktionär (Als Reaktion auf Erdogans Rede in der ausverkauften KölnArena im Februar 2008), dass sie auch ihre Bundeskanzlerin ist und überreicht höchstpersönlich deren Einbürgerungsurkunden (Einbürgerungsfeier im Bundeskanzleramt). Heute ist „Integration“ fester Bestandteil des Aufenthaltsgesetzes. Selbst die verstaubten Einbürgerungsvorschriften aus dem Jahre 1913 wurden mehrfach „modernisiert“ und vom alten Ausländergesetz losgelöst. Heute spricht man gerne von einem Staatsangehörigkeitsgesetz, dass sich an die Moderne und an die Bedürfnisse der Menschen in einer globalisierten Welt angepasst hat. Selbst das Übereinkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit ist für Deutschland am 21. Dezember 2002 außer Kraft getreten (Auch wenn sich das nicht in allen Regierungsebenen herumgesprochen hat. Der Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier hatte am 21. Januar 2009 im Deutschen Bundestag noch irrtümlich das Gegenteil behauptet, Plenarprotokoll 16/199, S. 21485).

Entsprechend fielen im vergangenen Jahr die Einbürgerungsquoten unter Beibehaltung der bisherigen Staatsbürgerschaften aus, was vom Statistischen Bundesamt in ihrer Mitteilung an die Presse nicht ausdrücklich erwähnt wurde und daher in der Berichterstattung unterging: 13 503 von insgesamt 14 029 EU-Bürgern (96,3 %) wurden unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit eingebürgert. Bei Bürgern aus den sog. “EWR-Staaten/Schweiz” (Island, Lichtenstein, Norwegen, Schweiz) betrug die Einbürgerungsquote unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit über 95 %, bei Bürgern aus den übrigen europäischen Ländern (Albanien, Andorra, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Moldau, Monaco, Montenegro, Russische Föderation, San Marino, Serbien (mit und ohne Kosovo), Serbien und Montenegro, Ukraine, Vatikanstadt, Weißrussland) 51,4 %, bei Afrikanern 62,7 %, bei Amerikanern 74,9 %, bei Asiaten 62,8 % und 87,7 % bei Bürgern aus Australien und Ozeanien. Diese Quoten wären zu Zeiten Helmut Kohls unvorstellbar gewesen.

Was unverändert geblieben ist, ist die Einbürgerungsquote unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit bei einigen Migrantengruppen. Sie lag bei Türkischstämmigen beispielsweise weit unterdurchschnittlich bei 18,2 %.

Dem liegt der Unionsche Gedanke zugrunde, dass „die doppelte Staatsangehörigkeit … nicht zur Verbesserung der Integration von Zuwanderern“ beiträgt. „Wer deutscher Staatsbürger werden will, von dem kann ein eindeutiges ‚Ja‘ zu Deutschland und die Abgabe seiner alten Staatsangehörigkeit erwartet werden. Eine generelle doppelte Staatsangehörigkeit birgt stattdessen die Gefahr von Loyalitätskonflikten und erschwert die Identifikation mit Deutschland als neuer Heimat.“, so Hartmut Koschyk (CSU) noch im Mai 2009 (CSU-Landesgruppe).

Angesichts der oben ausgeführten Einbürgerungsquoten unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit wiederspricht diese Argumentation sich selbst. Entweder bürgert Deutschland jährlich mehrere zehntausend Menschen ein, die möglicherweise ein „Loyalitätskonflikt“ haben und sich mit Deutschland schwerlich „identifizieren“ können, weil sie ihre bisherige Staatsbürgerschaft nicht abgeben oder diese Argumentation ist schlicht aus der Luft gegriffen und dient nur als Vorwand, was wiederum integrationspolitisch fatale Folgen hat: Die Ungleichbehandlung bestimmter Migrantengruppen erschwert bei den Betroffenen die geforderte „Identifikation mit Deutschland“ und erstickt sowohl die geforderte „Loyalität“ als auch das Entstehen von „Heimatgefühlen“ im Keim, weil die Ungleichbehandlung rational nicht mehr erklärbar ist und das Gefühl des „nicht-gewollt-seins“ nährt.

Ein näherer Blick in die Statistiken zeigt dabei, dass gerade diejenigen benachteiligt werden, die sich – nach der Unionschen Logik – scheinbar besser mit Deutschland „identifiziert“ haben, weniger „Loyalitätskonflikte“ aufweisen und ein „Heimatgefühl“ entwickelt haben. Es fällt auf, dass Menschen aus Staaten, denen die doppelte Staatsbürgerschaft verwehrt wird, im Schnitt eine höhere Einbürgerungsquote aufweisen als Menschen, die ihre bisherige Staatsbürgerschaft beibehalten dürfen (Destatis: Einbürgerungen – Fachserie 1 Reihe 2.1 – 2008, ab Seite 18). Die Einbürgerungsquote der türkischstämmigen beispielsweise liegt bei 1,4 % und ist doppelt so hoch als bei Bürgern aus den EU-Staaten (0,7 %).

Angesichts der Widersprüche, in die sich die Union selbst verwickelt, wird es Zeit, dass sie ihr Integrations- und Staatsangehörigkeitsverständnis überdenkt und sich von der vorliegenden Einbürgerungsstatistik leiten lässt als von der Vorstellung, doppelte Staatsbürgerschaften würden Loyalitäts- und Identitätskonflikte schaffen oder das Entstehen von „Heimatgefühlen“ erschweren. Wenn dem so wäre, müsste es für alle gleichermaßen gelten; wenn nicht, dann ebenso.

7 Kommentare
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  1. […] Integrationsprozesses“ versteht. Folgt man diesem Integrations- und Einbürgerungsverständnis, click for more var gaJsHost = ((„https:“ == document.location.protocol) ? „https://ssl.“ : […]

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  3. Soweit ich weiß haben wir eine schwarz-rote „Regierung“, die SPD macht jede Verschärfung der Ausländergesetze mit, für mich ist die SPD eine Partei der Heuchler, sie tut so als ob sie migrantenfreundlich wäre, ist aber genau so schlimm wie die Union, die Union ist aber ehrlicher, bei den wissen wir das sie uns hassen, ich schäme mich dafür das ich diese
    Opportunisten gewählt habe.
    SPD nie wieder!!!

  4. migazin.de ist nicht aufrufbar – Warum nicht?

  5. Die SPD ist auch mit dafür verantwortlich, dass die doppelte Staatsbürgerschaft letztendlich den Türken verwehrt blieb, obwohl sie vor den Wahlen seitens der SPD groß angekündigt wurde. Man nahm damals die Unterschriftenkampagne von Pizzagesicht Koch als Anlass, um in letzter Sekunde zurückzurudern. Heraus kam eine „kastrierte“ doppelte Staatsbürgerschaft, die voraussichtlich gegen das Grundgesetz verstößt. (Siehe Hans Jürgen Papier). Daher bin ich mit dir völlig d’accord kasim. Lang lebe Bündnis 90/ die Grünen.

  6. Zum Tag der Deutschen Einheit:

    Wulffs Rede: Integration heißt nicht, „ein Volk“ zu sein

    Bundespräsident Wulff hat unrecht, wenn er Deutsche aller Herkunft über einen Kamm schert. Zusammenwachsen braucht Zeit.

    „Ja – wir sind ein Volk.“ Es sollte mehr sein als eine literarische Wendung, als der Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede am 3.Oktober den Satz der Aufbegehrenden von 1989 auf das Deutschland im Jahre 2010 übertrug. Aber sind wir, die Bürger dieses Staates, tatsächlich alle ein Volk?

    Vor 20 Jahren zog es die Bürger im Osten und Westen Deutschlands zusammen, weil sie sich trotz über 40-jähriger Trennung nach wie vor als ein Volk empfanden – geprägt durch dieselbe Sprache, dieselbe Kultur, dieselbe Literatur, dieselbe Geschichte, auch immer noch durch ähnliche Mentalitäten. Familien lebten beidseits der Mauer, es gab Kontakte, wenn auch mehr Reisen von West nach Ost als von Ost nach West, es gab gemeinsame Sorgen um den Frieden und die Atomkraft und immer mehr auch um die Freiheit.

    Die Losung „Wir sind ein Volk“ konnte blitzschnell die ostdeutschen Straßen erobern, weil sie auf wunderbare Weise zwei Dinge zusammenfasste: den Wunsch zum Zusammenleben aller Brüder und Schwestern in Deutschland Ost und Deutschland West, also die Vereinigung des ethnisch deutschen Volkes, und den Wunsch zum Zusammenleben in einer gemeinsamen Nation, also die Vereinigung als Staatsvolk.

    Kein Volk, sondern Staatsvolk

    Wie wir nach 20 Jahren sehen, wächst zwar zusammen, was zusammengehört, aber selbst zwischen Deutschen Ost und West ist der Prozess noch immer mit Reibungen aufgrund unterschiedlicher Prägungen, gegenseitigen Kränkungen und vielen Missverständnissen verbunden. Um wie viel komplizierter wird der Prozess erst sein, wenn Gruppen zusammenwachsen sollen und wollen, die keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Geschichte, keine gemeinsame Religion, nur begrenzt gemeinsame Werte und nur begrenzt gemeinsame Literatur besitzen?

    Die eben kein Volk bilden, sondern ein Staatsvolk, eine Gesellschaft; gleich als Bürger, aber ungleich in Herkunft, Kultur oder Religion? Wer Türken, Polen, Russen, Juden, Iraker, Italiener, Deutsche zu einem Volk erklärt, weil sie deutsche Staatsbürger sind, verkleistert gerade das, was uns augenblicklich so viele Probleme bereitet und gelernt werden will: das von allen verbindlich zu fordern, was unsere gemeinsame staatsbürgerliche Grundlage ist, und das zu respektieren und auszuhalten, was die jeweils anderen an eigener Kultur und Religion neben uns leben.

    Deutschland hat in seiner Geschichte keine so langen und vielfältigen Erfahrungen im Umgang mit Menschen anderer Herkunft gesammelt wie unsere mitteleuropäischen Nachbarn, deren Bürger teilweise zu einem Drittel nationalen Minderheiten angehörten. Deutschland heute ist unsicher im Umgang mit den Fremden, die in den letzten 50 Jahren zu uns gekommen sind, und schwankte lange zwischen völliger Abgrenzung beziehungsweise Ignoranz und illusionärer Multikulti-Haltung. Ob „sie“ und „wir“ zu einem Volk zusammenwachsen, kann sich erst über Generationen entscheiden. Aber ob wir uns hier und heute als ein Staatsvolk verstehen lernen, das sich trotz ethnischer, sprachlicher, kultureller, religiöser Unterschiede auf eine gemeinsame staatsbürgerliche Grundlage verständigen kann, davon hängt der innere Frieden in unserem Land ab.

    Radikaler Islam gehört eben nicht zu Deutschland

    Zu Deutschland, erklärte Christian Wulff, gehörten zweifelsfrei das Christentum und das Judentum. Zu Deutschland, erklärte Wulff weiter, gehöre inzwischen aber auch der Islam. Wie das passiert sein soll, bleibt sein Geheimnis. Wenn von der christlich-jüdischen Tradition in Deutschland und Europa die Rede ist, ist damit eine weit über die Religionen hinausweisende Werte-Grundlage gemeint, die auch von nicht religiösen Staatsbürgern geteilt wird.

    Wulff warnt vor Spaltung in Deutschland
    Zweifellos gehören inzwischen auch Muslime zu Deutschland, aber einen Islam, wie er sich uns oft präsentiert, lehnen wir ab: mit der Scharia, der Unterdrückung der Frau, mit seiner Verachtung für Freiheiten, die wir schätzen. Ein solcher Islam darf nicht in die ethisch-moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft eingehen.

    Aus Angst und Hilflosigkeit haben wir das Fremde zunächst gänzlich ignoriert, sodass Parallelgesellschaften entstanden. Aus Angst und Hilflosigkeit soll das Fremde jetzt so schnell wie möglich integriert werden, damit es kein Fremdes mehr bleibt. Dabei zeigt ein Blick auf Einwanderungsgesellschaften, dass Fremdes und Eigenes lange nebeneinander bestehen, dass Übergänge von einer zur anderen Identität fließend sind, sich über viele Generationen hinziehen können und es sogar zu Renationalisierungen kommen kann wie auf dem Balkan. Ob und wie schnell sich ein Italiener, Pole oder Türke in Deutschland als Deutscher verstehen möchte, kann letztlich niemand anders entscheiden als er selbst. Es gibt auch Auslandsdeutsche, die sich noch nach Generationen als Deutsche fühlen, was sie nicht von der Loyalität gegenüber dem Staat entbindet, in dem sie leben.

    Es hat keinen Sinn, die kulturellen und ethnischen Differenzen in modernen Gesellschaften einzuebnen und die Konflikte schönzureden, die sich daraus ergeben. Dann wird weiter jener Unmut geschürt, der dem Sarrazin-Buch zu seinem Erfolg verholfen hat. Wir hier in Deutschland müssen nicht ein Volk sein, um als Staatsbürger zu einem Konsens zu finden.

    Pragmatikerin

  7. Immer noch unter dem schockierenden Eindruck, was fast 40.000 türkische Migranten unter Toleranz verstehen – hier: Fussballspiel Deutschland : Türkei – (Pfeifkonzerte gegen ein Mitglied der Deutschen Nationalmannschaft Mesut Özil) erwarte ich nun von der Berliner Politik ein hartes Durchgreifen um die Integration dieser muslimischen Migrantengruppe endlich voranzutreiben und den Migranten, welche nur die Vorteile der Sozialsysteme aber nicht die Pflichten eines Staatsbürgers erfüllen wollen, die Deutsche Staatsbürgerschaft wieder abzuerkennen und sie des Landes zu verweisen. Es reicht endlich uns Deutschen, nach fast 50 Jahren weiter Geld für Integrationsmassnahmen für integrationsunwillige Muslime zu bezahlen; wer die Bilder voller Hass bei dem „Fussballspiel“ gesehen hat, wendet sich mit Graussen!!!!!!!!!! Was ich ausserdem noch ganz schlimm finde, dass der Fussballspieler Özil sich nach dem Spiel nicht mal mehr getraut hat, an der „Siegesfeier“ teilzunehmen und sich mit einer „Verletzung“ „entschuldigt“ hat.
    In diesem Zusammenhang bedanke ich mich ausdrücklich für die klaren Worte unseres Hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier. Dieser hat mit eindeutigen und klaren Worten geäussert (was die Mehrheit der Hessen und sicher auch der Deutschen empfindet): „Der Islam gehört nicht zum Fundament unseres Landes“ In einem Interview mit Welt am Sonntag spricht er über Muslime, Integration und den Erfolg von Thilo Sarrazins Thesen.

    Pragmatikerin
    Welt am Sonntag: Herr Ministerpräsident Bouffier, der Bundespräsident meint, der Islam gehöre zu Deutschland wie das Christen- und Judentum. Hat er Recht?
    Volker Bouffier: Zu Deutschland gehören die Millionen Muslime, die bei uns leben. Zu Deutschland gehören allerdings auch die etlichen Millionen, die keine Religion haben. Sicher ist: Der Islam prägt unsere Gesellschaft und unser Staatsverständnis nicht annähernd so wie Christentum, Aufklärung und Humanismus. Der Islam gehört nicht zum Fundament unseres Landes.

    Welt am Sonntag: Den Bundespräsidenten kann man so interpretieren: Noch ist unsere Kultur christlich-jüdisch. Aber in ein oder zwei Generationen wird sie christlich-jüdisch-islamisch sein.

    Bouffier: Da habe ich große Zweifel. Dazu müsste der Islam erst einmal den Herausforderungen eines säkularen Staates im 21. Jahrhundert gerecht werden und sich zu einer Religion wandeln, die mit der Moderne kompatibel ist. Bassam Tibi hat vor etlichen Jahren das Konzept eines „europäischen Islams“ angedacht. Aber diese Entwicklung müssen die Muslime erst noch machen. Die Politik kann ihnen dabei allerdings helfen.

    Welt am Sonntag: Können Sie Beispiele nennen?

    Bouffier: Wir sollten nicht länger zulassen, dass Religionslehrer aus der Türkei zu uns kommen, die kein Wort Deutsch sprechen und unser Land nicht kennen. Stattdessen sollten wir islamische Theologen an unseren eigenen Hochschulen ausbilden. Wenn der Islam zu Deutschland gehören will, muss er sich auch aus Deutschland beziehungsweise Europa heraus entwickeln.

    Welt am Sonntag: Die Versöhnung des Islams mit der Moderne scheitert in weiten Teilen der islamischen Welt. Warum sollte sie ausgerechnet in den deutschen Einwanderervierteln gelingen?

    Bouffier: Ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben, dass unsere Lebensweise attraktiv ist. Auch der türkische Vater und die türkische Mutter wollen für ihre Töchter nur das Beste. Man muss ihnen einen Weg zeigen, wie unsere Lebensweise mit ihren religiösen Überzeugungen kompatibel ist. Dazu bedarf es eines aufgeklärten Islam. In Deutschland werden sie erkennen, dass das Beste vielleicht nicht das Kopftuch ist.

    Welt am Sonntag: Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) wollte kürzlich noch den Deutschen eine „Willkommenskultur“ verordnen.

    Bouffier: Von einer „Willkommenskultur“ würde ich schon deshalb nicht sprechen, weil die Menschen ja längst bei uns leben. Sicher müssen wir einerseits dazu beitragen, dass Integration gelingt. Andererseits müssen die Zuwanderer unser Land aber auch annehmen und sich einfügen. Sie können nicht erwarten, dass wir uns an die Verhältnisse ihres Herkunftslandes anpassen. Erfolgreiche Integration braucht Grundsätze und Leitplanken. Deshalb sträube ich mich auch nicht gegen den Begriff der Leitkultur.

    Welt am Sonntag: Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) fordert den Ausbau der doppelten Staatsbürgerschaft. Könnte das die Integrationsbereitschaft fördern?

    Bouffier: Im Gegenteil, dadurch befördert man nur die Entwicklung von Parallelgesellschaften. Auch die Loyalitätskonflikte, zu welchem Staat jemand steht, würden noch verstärkt.

    Welt am Sonntag: Gibt es zu viele Integrationsverweigerer?

    Bouffier: Ja. Und hier möchte ich eine Lebenslüge unserer Integrationsdebatte ansprechen: Integrationsverweigerung ist nicht allein mit Bildung zu lösen. Es gibt auch Integrationsverweigerer aus der intellektuellen Schicht. Und ein verfestigtes islamistisch-intellektuelles Milieu, das sich um bestimmte Moscheen herum organisiert. Darüber müssen wir reden. Integration gelingt nicht, wenn immer nur islamische Verbandsvertreter Maximalforderungen aufstellen und sich ständig darüber beklagen, dass ihrer Gemeinschaft nicht genügend Teilhabe ermöglicht wird. Die islamischen Verbände in Deutschland müssen sich viel stärker als bisher vom Fundamentalismus distanzieren.

    Welt am Sonntag: Sehen Sie in der Integrationspolitik auch Fortschritte?

    Bouffier: Wir sind vorangekommen, seit sich manche von ihren Multi-Kulti-Illusionen verabschiedet haben. Als Hessen als erstes Bundesland verbindliche Deutschkurse einführte, sind wir von den Claudia Roths dieser Welt noch als „Zwangsgermanisierer“ beschimpft worden. Heute können die gleichen Politiker gar nicht laut genug fordern, dass zuerst Deutsch gelernt werden muss. Und als wir einen Einbürgerungstest mit 100 Fragen vorschlagen wollten, ging die gleiche Suada über uns nieder. Dabei wollte ich ausdrücken, dass diejenigen, die deutsche Staatsbürger werden wollen, auch etwas von unserem Land wissen sollen. Heute sind die Tests längst Gesetz.

    Welt am Sonntag: Nun wird eine Quote von Migranten im öffentlichen Dienst gefordert.

    Bouffier: Gute Bewerber brauchen keine Quote. Das gilt auch für Migranten. Hessen liegt hier übrigens vorn: Rund 80 der 550 in diesem Jahr neu eingestellten Polizisten in Hessen haben einen Migrationshintergrund. Ihre Sprach- und Milieukenntnisse sind hilfreich. Zudem haben wir ein Projekt mit einer türkischen Zeitung, bei dem wir zusammen um Migranten werben.

    Welt am Sonntag: Die Integrationsbeauftragte der Kanzlerin möchte nun – wie die SPD schon lange – die Zwangsverheiratung verbieten.

    Bouffier: Zwangsverheiratungen waren als schwere Nötigung schon immer verboten und werden mit Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren geahndet. Ein neuer Straftatbestand wäre also nur eine politische Botschaft. Wenn man die senden möchte, habe ich freilich nichts dagegen.

    Bouffier: Viele Bürger empfinden das Ausbreiten einer fremden Kultur als Bedrohung ihrer Identität. Bei einigen herrscht der Eindruck vor, dass man wegen einer gewissen political correctnes über Integrationsdefizite am besten gar nicht spricht. Die Politik hat aber die Pflicht, das wahrzunehmen und auch aufzunehmen.

    Welt am Sonntag: Ebenfalls analysiert Dr. Thilo Sarrazin die Geburtenstatistik Deutschlands, die Zuwanderung aus muslimischen Ländern und folgert: Deutschland schafft sich ab. Ist seine These zutreffend?

    Bouffier: Nein, das ist eine Zuspitzung, die so nicht stimmt. Aber zur Wahrheit gehört auch: Deutschland wird sich fundamental verändern. Wir haben immer mehr ältere Menschen und unter den wenigen Jungen kommen sehr viele aus dem Bereich Zuwanderer. Bei uns in Hessen gibt es Regionen, in denen schon heute über die Hälfte der Menschen unter sechzig Jahren einen Migrationshintergrund hat. Von solchen Gebieten wird es künftig noch mehr in der gesamten Bundesrepublik geben.

    Welt am Sonntag: Wie viele Jahre wird es noch dauern, bis wir von einer gelungenen Integration der Muslime in Deutschland sprechen können?

    Bouffier: Integration wird ganz sicher sehr viel länger dauern, als die meisten dachten. Sie wird sehr viel schwieriger, als die meisten erhofften. Und sie wird sehr viel mehr Kraft kosten, als die meisten glaubten.

 

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