Der Verfassungsschutz im falschen Jahrhundert

31. März 2006 | Von | Kategorie: Feuilleton | Keine Kommentare |

Dem Verfassungsschutz ist etwas Schlimmes passiert: Er hat sich in der Zeit geirrt um mehr als hundertfünfzig Jahre. Der Geheimdienst hat, wie das in den vordemokratischen Zeiten üblich war, im Vormärz und 1848, zur Zeit der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, demokratische Politiker überwacht. Damals sind die Spitzel von ihren Großherzögen und Fürsten für solche Spitzeleien belobigt worden. Heute müssen sich die Geheimdienstler fragen lassen, auf welcher Basis sie eigentlich arbeiten und wem sie verpflichtet sind. Schützen sie als „Verfassungsschützer“ das Grundgesetz von 1949 – oder die Wiener Schlussakte von 1820, wonach das Volk und seine Vertreter nichts zu sagen haben sollen?

Der so genannte Landesverfassungsschutz des Saarlandes hat Oskar Lafontaine und andere noch ungenannte Abgeordnete des Bundestags, laut einer Meldung der Zeitschrift Focus, überwacht. Dies ist, auch wenn man die politischen Auffassungen der Betroffenen nicht teilt, ein unerhörter Vorgang. Die Überwachung ist nicht nur eine Beleidigung der überwachten Parlamentarier und des ganzen Parlaments, nicht nur ein verfassungswidriger Übergriff der Exekutive auf die Legislative, sondern auch eine unglaubliche Dummheit: Der Verfassungsschutz erweckt so den Eindruck, er lasse sich von den in den Ländern und Bund regierenden Parteien instrumentalisieren, um einer unliebsamen anderen Partei (hier offenbar der Linkspartei) zu schaden. Vor einem solchen Verfassungsschutz muss man die Verfassung schützen.

Und man muss den Bundesinnenminister als obersten Verfassungsschützer, man muss den Bundestag als das verletzte Organ fragen, warum es nicht laut und energisch protestiert. Es geht nicht um Parteipolitik, sondern um die Beachtung der Grundlagen demokratischer Ordnung. Eine Exekutive, die sich anmaßt, nach eigenem Gutdünken das Parlament zu kontrollieren, verkehrt die Kontrollmechanismen des Grundgesetzes ins Gegenteil. Und wer so mit der Verfassung umgeht, ist nicht ihr Schützer, sondern ihr Schinder.

Ob Oskar Lafontaine oder andere Abgeordnete des Bundestags vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet werden, will sich die Bundesregierung jedoch nicht äußern. Sie „äußert sich zu den geheimhaltungsbedürftigen Angelegenheiten des Verfassungsschutzes grundsätzlich nur in den dafür vorgesehenen Gremien des Deutschen Bundestages“, heißt es in einer Antwort aus dem Innenministerium auf eine entsprechende Frage des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der Grünen, Beck.

Dass Oskar Lafontaine vom Verfassungsschutz beobachtet wird, beruhigt mich ungemein. Nicht, weil ich ihn für gefährlich halte – nein. Doch offensichtlich ist unsere Verfassung weder von Rechtsextremisten noch von Islamisten sonderlich gefährdet, sonst hätte der Verfassungsschutz wohl kaum Zeit und Ressourcen für Lafontaine frei.

Quellen: Süddeutsche Zeitung und FAZ vom 31.03.2006

Ekrem Senol – Köln, 31.03.2006

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