Keine Ausreisepflicht eines assoziationsberechtigten Türken bei Ablehnung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis; Feststellung der aufschiebenden Wirkung

2. September 2006 | Von | Kategorie: Leitartikel | Keine Kommentare |

VG Karlsruhe, Beschluß vom 29. Mai 2006, Az: 9 K 2044/05

Die Ablehnung des Antrags eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen auf Verlängerung seiner nach § 4 Abs. 5 AufenthG (AufenthG 2004) deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis begründet keine vollziehbare Ausreisepflicht. Dies kann entsprechend § 80 Abs. 5 VwGO im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes festgestellt werden.

Tenor
1. Es wird festgestellt, dass die Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 01.09.2005 keine vollziehbare Ausreisepflicht des Antragstellers begründet.
2. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 01.09.2005 wird angeordnet.
3. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
4. Der Streitwert wird auf 5.000,– € festgesetzt.

Entscheidungsgründe
Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (in Nr. 2 des Bescheids des Regierungspräsidiums Karlsruhe) wiederherzustellen, ist sachdienlich dahin auszulegen, dass damit begehrt wird festzustellen, dass die Ablehnung seines Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis keine vollziehbare Ausreisepflicht begründet hat (§ 80 Abs. 5 VwGO analog).

1. Einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage – eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kommt wegen der grundsätzlich bereits kraft Gesetzes (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) gegebenen sofortigen Vollziehbarkeit der ablehnenden Entscheidung von vornherein nicht in Betracht – fehlt es am Rechtsschutzinteresse. Ein solches besteht nur, wenn bei einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht des Ausländers entfällt (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 01.09.2005, 11 S 877/05, VBlBW 2006, 111). Im vorliegenden Fall besäße der Antragsteller somit nur dann ein Rechtsschutzinteresse für einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage, wenn er auf Grund des Bescheides des Antragsgegners vollziehbar ausreisepflichtig wäre. Dem ist jedoch nicht so.

a) Die unter Nr. 1 des Bescheides des Antragsgegners verfügte Ausweisung bringt zwar das Aufenthaltsrecht des Antragstellers zum Erlöschen und löst seine Ausreisepflicht aus. Die gegen die Ausweisung erhobene Klage hat jedoch unstreitig aufschiebende Wirkung, so dass die durch die Ausweisung ausgelöste Ausreisepflicht nicht vollziehbar ist. Der Antragsgegner hat insoweit auch nicht die sofortige Vollziehung angeordnet.

b) Die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers in Nr. 2 des Bescheides führt entgegen der Auffassung des Antragsgegners ebenfalls nicht zu einer vollziehbaren Ausreisepflicht, weshalb es zur Gewährung effektiven Rechtschutzes der in Ziffer 1 des Tenors getroffenen Feststellung bedarf. Der Antragsteller besitzt ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, denn es muss nach Aktenlage davon ausgegangen werden, dass er als Sohn eines dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers erlaubt in die Bundesrepublik eingereist ist. In der Akte der Ausländerbehörde der Stadt Mannheim ist zwar nicht vermerkt, dass der Vater des Antragstellers zum Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers Arbeitnehmer war. Auf dem ersten Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 29.01.1993 und auf dem weiteren Antrag vom 08.09.1994 ist jedoch vermerkt, dass der Vater Arbeitslohn bezieht. Es ist daher zu Gunsten des Antragstellers davon auszugehen, dass sein Vater auch 1988, dass heißt im Zeitpunkt des Zuzugs des Antragstellers, Arbeitnehmer war. Demnach stehen dem Antragsteller die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 zu. Hierzu zählt auch das Recht, sich im Bundesgebiet aufzuhalten. Gegenüber diesem Aufenthaltsrecht hat der Aufenthaltstitel nach nationalem Recht lediglich deklaratorischen Charakter. Denn nach § 4 Abs. 5 S. 1 AufenthG ist ein Ausländer, dem ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei zusteht, lediglich verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis „nachzuweisen“. Die Aufenthaltserlaubnis wird gemäß § 4 Abs. 5 S. 2 AufenthG nicht „erteilt“ sondern „ausgestellt“ (vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung BT-Drs. 15/420 S. 69). Kommt aber der Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz nur deklaratorische Wirkung zu, so kann die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis das materielle Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht zerstören. Dies ist nur im Wege einer Ausweisung möglich, die u.a. den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 genügt.

Durch die im Bescheid des Antragsgegners vom 01.09.2005 verfügte Ausweisung wurde das Aufenthaltsrecht des Antragstellers nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei zerstört, denn die Ausweisung ist trotz der dagegen erhobenen Klage nach § 84 Abs. 2 S. 1 AufenthG wirksam. Der Antragsteller wurde dadurch nach § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig. Die Ausreisepflicht ist jedoch nicht vollziehbar, denn die Klage gegen die das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht des Antragstellers zerstörende Ausweisung hat aufschiebende Wirkung. Bei dieser Sachlage bedarf es keiner inzidenten Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung unter dem Gesichtspunkt der Gewährung effektiven Rechtschutzes.

c) An diesem Ergebnis ändert auch § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nichts. Nach dieser Vorschrift hat die Klage gegen die Ablehnung eines Antrags auf Verlängerung des Aufenthaltstitels keine aufschiebende Wirkung. Sie kommt hier jedoch nicht zum Tragen, da es im Fall des Antragstellers nicht um die Verlängerung eines – konstitutiven – Aufenthaltstitels nach dem Aufenthaltsgesetz geht (a. A. Funke-Kaiser in GK-Aufenthaltsrecht, Stand: Februar 2006, § 84 Rd.-Nr. 14 unter Hinweis auf die gegenüber EG-Unionsbürgern abweichende verfahrensrechtliche Stellung). Das Aufenthaltsrecht des Antragstellers folgt bereits unmittelbar aus dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei. Die Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz ist demgegenüber, wie bereits ausgeführt, lediglich deklaratorisch. Damit gleicht die aufenthaltsrechtliche Situation türkischer Assoziationsberechtigter der von EG-Unionsbürgern. Auch deren Aufenthaltsrecht folgt aus supranationalem Recht; § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist auf sie nicht anwendbar (vgl. § 11 FreizügG/EU). Unterschiede zwischen beiden Personengruppen bestehen allerdings in der verfahrensrechtlichen Position. Während bei EG-Unionsbürgern statt einer Ausweisung nach § 6 FreizügG/EU nur der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt werden kann, bleibt die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger möglich. Auch hinsichtlich der Ausreisepflicht bestehen Unterschiede, denn EG-Unionsbürger sind erst ausreisepflichtig, wenn die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts unanfechtbar ist. Diese Unterschiede besagen jedoch nichts darüber, welche Wirkung die Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis eines Assoziationsberechtigten hat. Maßgebend ist insoweit allein, dass Rechtsgrundlage des materiellen Aufenthaltsrechts das Assoziationsabkommen EWG/Türkei ist und dieses Aufenthaltsrecht daher auch nur unter den dort genannten Voraussetzungen erlischt (vgl. zum Verlust der Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 EuGH, Urt. v. 11.11.2004, ‚Centinkaya’ NVwZ 2005, 198). Ob der lediglich deklaratorische Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz verlängert wird oder nicht, ist für das Bestehen des Aufenthaltsrechts unerheblich. Demzufolge kann auch die Ablehnung der Verlängerung weder materielle noch prozessuale Folgen haben.

2. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers ist anzuordnen, soweit sie sich gegen die im Bescheid des Antragsgegners enthaltene Abschiebungsandrohung richtet. Der Antragsteller hat dies zwar nicht ausdrücklich beantragt. Die Kammer versteht seinen Antrag jedoch dahingehend, dass er auch insoweit einstweiligen Rechtsschutz begehrt. Der Antrag ist nach § 80 Abs. 5 i. V. m. Abs. 2 S. 2 VwGO und § 12 LVwVG statthaft und auch sonst zulässig. Insbesondere fehlt insoweit nicht das Rechtsschutzinteresse. Der Antragsgegner hat die Abschiebung aus der Haft angedroht. Eine solche Abschiebung ist jedoch nicht möglich, da die Ausreisepflicht – zumindest derzeit – aus den oben dargelegten Gründen nicht vollziehbar ist. Der Antragsteller hat daher ein Interesse an einer Klarstellung, dass er derzeit nicht aus der Haft heraus abgeschoben werden kann. Dies ist nur im Wege einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage möglich. Die Abschiebungsandrohung ist eine kraft Gesetzes (§ 12 LVwVG) sofort vollziehbare Vollstreckungsmaßnahme. Eine dagegen gerichtete Klage hat keine aufschiebende Wirkung, so dass es deren Anordnung bedarf. Der Antrag ist insoweit auch begründet, da dem Antragsteller eine Ausreisefrist gesetzt werden muss, die nach dem Eintritt der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht endet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG.

(EWGAssRBes 1/80 Art. 7, EWGAssRBes 1/80 Art. 14, AufenthG 2004 § 4 Abs. 5, AufenthG 2004 § 84 Abs. 1 Nr 1)

Ekrem Senol РK̦ln, 02.09.2006

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