Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit für die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland

7. Juni 2005 | Von | Kategorie: Leitartikel | 2 Kommentare |

A. Einleitung

Es gibt eine Reihe Ausnahmen im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht, die eine Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit vorsehen. Im Folgenden werden die einzelnen Voraussetzungen vorgestellt um sodann in die Feinheiten der meist unbestimmten Begriffe einzugehen und diese auf die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland zu übertragen.
§ 12 StAG sieht vor, dass eine Einbürgerung auch dann möglich ist, wenn der Ausländer seine bisherige Staatsangehörigkeit nicht oder nur unter besonders schwierigen Bedingungen aufgeben kann.

Dies sei anzunehmen, wenn

  1. das Recht des ausländischen Staates das Ausscheiden aus dessen Staatsangehörigkeit nicht vorsieht,
  2. der ausländische Staat die Entlassung regelmäßig verweigert und der Ausländer der zuständigen Behörde einen Entlassungsantrag zu Weiterleitung an den ausländischen Staat übergeben hat,
  3. der ausländische Staat die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit aus Gründen versagt hat, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, oder von unzumutbaren Bedingungen abhängig macht oder über den vollständigen und formgerechten Entlassungsantrag nicht in angemessener Zeit entschieden hat,
  4. der Einbürgerung älterer Personen ausschließlich das Hindernis eintretender Mehrstaatigkeit entgegensteht, die Entlassung auf unverhältnismäßige Schwierigkeiten stößt und die Versagung der Einbürgerung eine besondere Härte darstellen würde,
  5. dem Ausländer bei Aufgabe der ausländischen Staatsangehörigkeit erhebliche Nachteile insbesondere wirtschaftlicher oder vermögensrechtlicher Art entstehen würden, die über den Verlust der staatsbürgerschaftlichen Recht hinausgehen, oder
  6. der Ausländer einen Reiseausweis nach Artikel 28 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) oder eine nach Maßgabe des § 23 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes erteilte Niederlassungserlaubnis besitzt.
  7. Die Mehrstaatigkeit wird ferner hingenommen, wenn der Ausländer die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union besitzt und Gegenseitigkeit besteht.
  8. Des weiteren kann die Mehrstaatigkeit auch hingenommen werden, wenn der ausländische Staat die Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit von der Leistung des Wehrdienstes abhängig macht und de Ausländer den überwiegenden Teil seiner Schulausbildung in deutschen Schulen erhalten hat und im Inland in deutsche Lebensverhältnisse und in das wehrpflichtige Alter hineingewachsen ist.
  9. Letztlich können weitere Ausnahmen nach Maßgabe völkerrechtlicher Verträge vorgesehen werden.

B. Nähere Betrachtung der einzelnen Ausnahmeregelungen

1. Unmöglichkeit der Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit (§ 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StAG)
Die rechtliche Unmöglichkeit, dass ein Ausscheiden aus der bisherigen Staatsangehörigkeit nicht vorgesehen ist, wird nur in den seltensten Fällen eintreten, nachdem sich im Völkerrecht weitgehend der Grundsatz durchgesetzt hat, dass niemandem das Recht versagt werden darf, sein Staatsangehörigkeit zu wechseln (Art. 15 AllgEMR v. 10.12.1948).
Da die Türkei sich diesem Grundsatz anschließt, entfällt für die türkischstämmige Bevölkerung die Möglichkeit, hiernach die doppelte Staatsbürgerschaft zu erhalten.

2. Regelmäßige Verweigerung der Entlassung (§ 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StAG)
Die faktische Unmöglichkeit ist gegeben, wenn die zuständige Behörde des Heimatstaates allgemein und nicht nur bei besonderen Kategorien von Staatsangehörigen die Entlassung verweigert, wenn Entlassungen also nie oder fast nie genehmigt werden (BT-Drs. 14/533, S 19; Nr. 87.1.2.2 StAR-VwV).
Auch hiernach ist die Erlangung der Mehrstaatigkeit ausgeschlossen, da die Türkei die Ausbürgerung, insbesondere für in Europa lebende Türken, vor allem mit Einführung der so genannten „Rosa Karte“ in den Medien forciert hat und nach wie vor befürwortet.

3. Versagung der Entlassung, unzumutbare Entlassungsbedingungen und die Nichtbescheidung eines Entlassungsantrags (§ 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StAG)

a) Die Versagung der Entlassung

Hiermit sind die Fälle der willkürlichen Versagung der Entlassung sowie die Fälle, in denen es einem Ausländer nicht gelingt, trotz Erfüllung zumutbarer und sachlich gerechtfertigter Anforderungen aus seiner bisherigen Staatsangehörigkeit entlassen zu werden (Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, Nachtrag, § 87 AuslG, Rn. 22). Gründe können in der Rechtsordnung oder Praxis des betreffenden Staates liegen. Sie können politischer, wirtschaftlicher oder fiskalischer Art sein. Die Versagung der Entlassung setzt grundsätzlich eine ablehnende schriftliche Entscheidung voraus (StAR-VwV, Nr. 87.1.2.3.1). Eine Versagung liegt auch dann vor, wenn eine Antragstellung trotz mehrerer ernsthafter und nachhaltiger Bemühungen des Einbürgerungsbewerbers über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten nicht ermöglicht wird.

Weder die Rechtsordnung noch die Praxis können zu Mehrstaatigkeit nach § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 Alt. 1. StAG für die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland führen, da die Türkei sich bei Ausbürgerungen sehr kooperativ zeigt, wenn keine Ausbürgerungshindernisse im Einzelfall gegeben sind. Auch wird es jedem Einbürgerungsbewerber möglich sein, einen entsprechenden Antrag in den türkischen Konsulaten zu stellen.

b) Unzumutbare Entlassungsbedingungen

1) Unzumutbare Entlassungsbedingungen waren nach früherem Recht insbesondere bei der Beurteilung der unzumutbaren Härte zu berücksichtigen. Mit dem Begriff der „unzumutbaren Härte“ wollte der Gesetzgeber an eine etablierte Praxis anknüpfen. Die als Folge des Staatsangehörigkeitswechsels beim Erwerb von Grundeigentum oder im Erbfall verbundenen allgemeinen Rechtsnachteile insbesondere bei türkischen Staatsangehörigen wurden dabei im Allgemeinen nicht als ausreichend angesehen (Hessischer VGH, EZAR Nr. 278 Nr. 3).
Durch die Einführung der „Rosa Karte“ und das Regelungsgleiche Art. 29 S. 2 des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetztes, dürfte für die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland, abgesehen von der ablehnenden Haltung der Rechtsprechung in Bezug auf allgemeine Rechtsnachteile, eine unzumutbare Härte abzulehnen sein.

2) Eine weitere unzumutbare Bedingung im Sinne von § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 Alt. 2 liegt vor, wenn die bei der Entlassung zu entrichtenden Gebühren insgesamt (inklusive Nebenkosten) ein durchschnittliches Bruttomonatseinkommen des Einbürgerungsbewerbers übersteigen und mindestens ca. 1278 Euro betragen.
Die Ausbürgerungsgebühren, die der türkische Staat verlangt, sind weit unter der Unzumutbarkeitsgrenze, so dass eine Mehrstaatigkeit hiernach nicht in Betracht kommt.

3) Eine letzte unzumutbare Entlassungsbedingung liegt vor, wenn der Herkunftsstaat die Entlassung von der Leistung des Wehrdienstes abhängig macht, wenn der Einbürgerungsbewerber

  • sich aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung widersetzt und die Leistung eines Ersatzdienstes durch den Herkunftsstaat nicht möglich ist,
  • zur Ableistung des Wehrdienstes für mindestens zwei Jahre seinen Aufenthalt im Ausland nehmen müsste und in einer familiären Gemeinschaft mit seinem Ehegatten und einem minderjährigen Kind lebt,
  • über 40 Jahre alt ist und seit mehr als 15 Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Herkunftsstaat hat, davon mindestens zehn Jahre im Inland,
  • durch die Leistung des Wehrdienstes in eine bewaffnete Auseinandersetzung mit Deutschland verwickelt werden könnte.

Wenn allerdings die Ableistung des Wehrdienstes durch eine Geldzahlung abgewendet werden kann, so ist dies nur dann unzumutbar, wenn das Dreifache eines durchschnittlichen Bruttomonatsgehalts des Einbürgerungsbewerbers überschritten wird. Ein Betrag von 5113 Euro ist immer zumutbar (StAR-VwV, Nr. 87.1.2.3.2.2), wobei diese Grenze in der endgültigen Fassung des StAR-VwV des Bundes nicht mehr enthalten ist (Staatsangehörigkeitsrecht, Hailbronner/Renner, München 2005, 4. Auflage, § 12 StAG Rn. 35).

Die Türkei macht die Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft nicht mehr von der Leistung des Wehrdienstes abhängig. Daher kommen auch die einzelnen Fallgruppen nicht zur Anwendung.

Die aktuell in der Türkei diskutierte Reform, wonach die Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft an die Ableistung des Wehrdienstes geknüpft werden soll, wird bei der aktuellen Forderung der Türkei von 5112 Euro für das „Freikaufen“ vom Wehrdienst, ebenfalls nicht zur Erlangung der Mehrstaatigkeit führen, da ein Betrag von 5113 Euro immer zumutbar ist. Somit wird es im Einzelfall auch nicht darauf ankommen, wie hoch der Bruttomonatsgehalt des Einbürgerungsbewerbers ist.

c) Nichtbescheidung eines Entlassungsantrages

Die Nichtbescheidung eines ordnungsgemäß (form- und fristgerecht) eingelegten Entlassungsantrags innerhalb einer angemessenen Frist kann zur Hinnahme von Mehrstaatigkeit führen. Umstritten ist, welcher Zeitraum als angemessen anzusehen ist. Die Rechtssprechung vertritt die Auffassung, dass je nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden müsse (VGH Baden-Würtemberg, InfAuslR 1997, 317). Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, dass eine absolute Grenze bei einem Zeitraum von zwei Jahren anzunehmen sei (Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 87 AuslG, Rn. 2). Nach StAR-VwV ist Mehrstaatigkeit hinzunehmen, wenn zwei Jahre nach Einreichen eines vollständigen und formgerechten Entlassungsantrages eine Entlassung aus der Staatsangehörigkeit nicht erfolgt und mit einer Entscheidung innerhalb der nächsten sechs Monate zu rechnen ist (StAR-VwV, Nr. 87.1.2.3.3).

Da die Türkei regelmäßig noch vor Ablauf eines Jahres den Entlassungsantrag bescheidet, dürfte nach allen hier aufgeführten Auffassungen, eine Mehrstaatigkeit für die türkischstämmige Bevölkerung nicht in Betracht kommen.

4. Ältere Personen (§ 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 StAG)

Nach § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 StAG werden ältere Personen bei Erfüllung folgender Voraussetzungen unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit eingebürgert:

  • Ältere Personen sind Personen, die das 60. Lebensjahr vollendet haben (StAR-VwV, Nr. 87.1.2.4).
  • Die Entlassung muss auf unverhältnismäßige – tatsächliche oder rechtliche- Schwierigkeiten stoßen. Dies ist der Fall, wenn diese einer älteren Person nicht mehr zugemutet werden sollen. Solche Schwierigkeiten können zum Beispiel dann vorliegen, wenn der ältere Einbürgerungsbewerber gesundheitlich so sehr eingeschränkt ist, dass er in der Auslandsvertretung nicht persönlich vorsprechen kann oder wenn die Entlassung eine Reise in den Herkunftsstaat erfordern würde, die altersbedingt nicht mehr zumutbar ist, oder wenn sich nicht oder nicht mit vertretbarem Aufwand aufklären lässt, welche ausländische Staatsangehörigkeit er besitzt (StAR-VwV, Nr. 87.1.2.4).
  • Die Versagung der Einbürgerung muss eine besondere Härte darstellen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn alle in Deutschland wohnhaften Familienangehörigen bereits deutsche Staatsangehörige sind oder der Einbürgerungsbewerber seit mindestens 15 Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (StAR-VwV, Nr. 87.1.2.4).

Von dieser Ausnahmeregelung können in Deutschland ansässige ältere Türken, soweit die einzelnen Voraussetzungen vorliegen, unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit, eingebürgert werden.

5. Erhebliche Nachteile (§ 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StAG)

Seit dem 1.1.2000 in § 87 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 AuslG und seit dem 1.1.2005 in § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StAG sind erhebliche Nachteile wirtschaftlicher oder vermögensrechtlicher Art als Grund für die Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit genannt. Berufliche Nachteile dagegen, wie sie etwa in der Türkei auftreten können, wurden trotz eines Vorschlags nicht in das Gesetz eingeführt (Sitzung des Innenausschusses, in Dt. Bundestag, Reform des StAngR, S. 283, 312). Wirtschaftliche oder vermögensrechtliche Nachteile können sich aus dem Recht des Herkunftsstaates unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse oder aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergeben (StAR-VwV, Nr. 87.1.2.5.1).

Zu berücksichtigen ist es danach beispielsweise, wenn

  • mit dem Ausscheiden aus der Staatsangehörigkeit Erbrechtsbeschränkungen verbunden sind,
  • sich der Einbürgerungsbewerber gegenüber seinem Herkunftsstaat verpflichten muss, Rechte an Liegenschaften, die er im Herkunftsstaat besitzt oder durch Erbfolge erwerben könnte, nach dem Ausscheiden aus der Staatsangehörigkeit ohne angemessene Entschädigung auf andere Personen zu übertragen oder deutlich unter Wert zu veräußern,
  • mit dem Ausscheiden aus der ausländischen Staatsangehörigkeit der Verlust von Rentenansprüchen oder -anwartschaften verbunden wäre oder
  • geschäftliche Beziehungen in den ausländischen Staat durch das Ausscheiden aus dessen Staatsangehörigkeit konkret gefährdet wären (StAR-VwV, Nr. 87.1.2.5.1).

Erheblich sind nur objektive Nachteile, die deutlich über das normale Maß hinausreichen. Wirtschaftliche oder vermögensrechtliche Nachteile sind in der Regel erheblich, wenn sie ein durchschnittliches Bruttojahreseinkommen des Einbürgerungsbewerbers übersteigen; wirtschaftliche Nachteile unter 10.226 Euro (früher 20.000 DM) sind stets unerheblich (StAR-VwV, Nr. 87.1.2.5.2).

Dabei sind nicht die Einbürgerungsbehörden verpflichtet, den Sachverhalt bis ins Detail aufzuklären, sondern der Einbürgerungsbewerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht. Er muss die notwendigen Anhaltspunkte vortragen und durch Entsprechende Dokumente, gegebenenfalls innerhalb einer vorzugebenden Frist, nachweisen. Kommt er dieser Anforderung nicht schlüssig nach, ist die Hinnahme von Mehrstaatigkeit zu verneinen (Rundschreiben des Innenministeriums NRW vom 19.03.2003, Aktenzeichen 13/13-10.14.5). Auch die Rechtsprechung schließt sich dem Innenministerium an (VG Berlin, InfAuslR 2003, 352).

Für die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland ist folgendes festzuhalten:
Mit dem Tag der Ausbürgerung aus der türkischen Staatsbürgerschaft sind die Antragsteller Ausländer im Sinne des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes, Art. 29 S. 1. Nach Art. 29 S. 2 des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes, der durch das Änderungsgesetz Nr. 4112 am 7.6.1995 geändert wurde besagt, dass sämtliche Rechte einer Person, die durch Geburt die türkische Staatsbürgerschaft erlangt hat und durch die Zustimmung des Ministerrats gemäß Art. 20 türkisches Staatsangehörigkeitsgesetz ausgebürgert wurde, im Erbrecht, im Erwerb oder Verkauf von beweglichen wie unbeweglichen Sachen, Arbeit, Aufenthalt und Reise erhalten bleiben, solange nicht nationale Interessen der Türkei oder ihre innere Ordnung gefährdet werden.

Demnach ist die „Rosa Karte“ praktisch nur der Beleg dafür, dass der Besitzer in den Anwendungsbereich des Art. 29 S. 2 des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes fällt. Sie stellt weder eine Ergänzung noch eine Abänderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes dar.

In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass kein anderes Staatsangehörigkeitsgesetz in Europa solch eine Regelung für seine ausgebürgerten Mitbürger trifft und diese Regelung in Europa einzigartig ist. Es ist festzustellen, dass eine Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit in erster Linie wegen Art. 29. S. 2 türkisches Staatsangehörigkeitsrecht nicht in Betracht kommt, da sämtliche Nachteile im Sinne des § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StAG bei der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland, kraft türkischen Rechts, nicht vorliegen. Nur eine Änderung der Gesetzeslage und die gleichzeitige Abschaffung der „Rosa Karte“ könnten zur Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit führen.

6. Politisch Verfolgte (§ 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 StAG)

Ergänzend zur Vorschrift ist hier lediglich – da die Vorschrift hinreichend bestimmt ist – auszuführen, dass auch Kinder, die selbst nicht den Flüchtlingsstatus haben, deren Eltern aber als Asylberechtigte oder GFK-Flüchtlinge unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit eingebürgert werden, in den Anwendungsbereich fallen, da diese Kinder regelmäßig nicht ohne ihre Eltern aus der alten Staatsangehörigkeit entlassen werden.
Ohne weiteres kann ein türkischer Staatsbürger, soweit die Voraussetzungen des § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 StAG vorliegen, unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit eingebürgert werden.

7. Einbürgerung von EU-Ausländern (§ 12 Abs. 2 StAG)

Diese Vorschrift ermöglicht die Hinnahme von Mehrstaatigkeit in den Fällen, in denen der Ausländer die Staatsangehörigkeit eines der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union besitzt und Gegenseitigkeit besteht. Gegenseitigkeit besteht aktuell bei folgenden Ländern:
Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien (nicht bei Staatsangehörigen aus den Überseegebieten), Irland, Italien, Niederlande (mit Einschränkung auf bestimmte Personengruppen), Polen, Portugal, Schweden, Slowakische Republik, Slowenien (mit Einschränkung auf bestimmte Personengruppen) und Ungarn.
Gegenseitigkeit besteht dagegen bei folgenden Ländern nicht:
Dänemark, Estland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Österreich, Spanien und Tschechische Republik.
Die Frage der Gegenseitigkeit ist bei Malta und Zypern noch nicht verbindlich festgelegt.

Für die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland folgt aus dieser Vorschrift vor allem aus zwei Gründen nicht zur Hinnahme der Mehrstaatigkeit. Zum einen gehört die Türkei nicht zur EU. Trotz voraussichtlicher baldiger Aufnahme der Beitrittsverhandlungen, ist zumindest in absehbarer Zeit nicht damit zu rechnen, dass die Türkei in die EU aufgenommen wird. Zum anderen ist das türkische Staatsangehörigkeitsrecht in der aktuellen Fassung nicht so gestaltet, dass eine Gegenseitigkeit bestehen könnte.

8. Leistung ausländischen Wehrdienstes durch im Inland aufgewachsene Einbürgerungsbewerber (§ 12 Abs. 3 StAG)

Diese Vorschrift eröffnet die Möglichkeit der Hinnahme der Mehrstaatigkeit bei solchen Bewerbern an, die den überwiegenden Teil ihrer Schulausbildung in einer deutschen Schule erhalten haben und hier in die deutschen Lebensverhältnisse und in das wehrpflichtige Alter hineingewachsen sind. Die Hinnahme der Mehrstaatigkeit liegt in diesem Fall im Ermessen der Behörde. Es ist abzuwägen, ob an der Erhaltung der vom Heimatstaat des Einbürgerungsbewerbers gestellten Bedingung der Ableistung des Wehrdienstes ein besonderes öffentliches Interesse besteht oder ob das Interesse an der Einbürgerung auch unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit den Vorrang verdient. Im Rahmen dieser Entscheidung ist ein öffentliches Interesse an der Verwirklichung der integrationspolitischen Ziele der erleichterten Einbürgerung derjenigen Ausländer, die ihre Schulausbildung überwiegend im Bundesgebiet erhalten haben, zu unterstellen (Staatsangehörigkeitsrecht, Hailbronner/Renner, München 2005, 4. Auflage, § 12 StAG Rn. 33). Was überwiegend bedeutet, hat das OVG Hamburg näher ausgeführt. Nach Wortlaut, Sinn und Zweck der Vorschrift sei nicht entscheidend, ob der Schulbesuch des Ausländers in Deutschland nach Monaten, Wochen oder Tagen geringfügig länger als außerhalb Deutschlands sei. Der Vergleich der Dauer der Schulausbildung hier und dort müsse auf die jeweils erreichte Qualifikation auf die Schuljahre als die durch pädagogisch-didaktisch für Kriterien bestimmte Einheiten der Schulausbildung abstellen (Staatsangehörigkeitsrecht, Hailbronner/Renner, München 2005, 4. Auflage, § 12 StAG Rn. 36).

Der Einbürgerungsbewerber kann unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit eingebürgert werden, wenn

  • noch mit seiner Einberufung in die Bundeswehr gerechnet werden kann oder
  • die Leistung des Wehrdienstes im ausländischen Staat aufgrund der Umstände des Einzelfalls (zum Beispiel fehlende Sprachkenntnisse; fehlende Vertrautheit mit den Sitten und Gebräuchen des Herkunftsstaats; Dauer des Wehrdienstes; längerfristige Trennung von nahen Angehörigen; Gefahr, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu verlieren beziehungsweise eine entsprechende Stelle nicht antreten zu können) mit Nachteilen oder besonderen Belastungen verbunden wäre, die einem deutschen Staatsangehörigen in vergleichbarer Lage nicht zugemutet würden.

Sofern eine Frei- oder Zurückstellung vom Wehrdienst nach dem Heimatrecht des Einbürgerungsbewerbers möglich ist, wird bei der Ermessensausübung berücksichtigt, ob er die dazu erforderlichen Schritte unternommen und die entsprechenden Anträge gestellt hat (StAR-VwV, Nr. 87.3.2).

Bei der Einbürgerung von türkischstämmigen Ausländern ist die Anwendung dieser Vorschrift seit dem 12.06.1995 durch die ersatzlose Streichung des Art. 20 lit. B türkisches Staatsangehörigkeitsrecht, der bis dahin die Ableistung des Wehrdienstes vor der Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit zur Bedingung machte, indes nicht mehr erforderlich (Vgl. Cebecioglu, StAZ 1995, 234 f.).

Aber auch eine Änderung des türkischen Staatsangehörigkeitsrechts würde nicht zur Hinnahme von Mehrstaatigkeit führen, wenn die Wehrdienstleistung durch Zahlung einer Geldsumme abgewendet werden kann und dies auch zumutbar ist. Die Zahlung einer Geldsumme ist dann unzumutbar, wenn das Dreifache eines durchschnittlichen Bruttomonatseinkommens des Einbürgerungsbewerbers überschritten wird wobei teilweise (Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums Baden-Württemberg zum Staatsangehörigkeitsrecht vom 5.1.2001) vertreten wird, dass eine Zahlung von 5113 Euro immer zumutbar sei. Die Grenze von 5113 Euro wird dagegen in der Verwaltungsvorschrift des Bundes nicht mehr aufgeführt (Vgl. oben 3. b) 3)). Insofern ist nicht nur die Wiedereinführung der Bedingung der Wehrdienstleistung vor der Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft, was aktuell Gegenstand der Diskussionen in der Türkei ist, sondern auch eine Erhöhung der „Freikaufsumme“ von der Wehrpflichtbefreiung erforderlich. Zumindest aktuell kommt eine Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit für die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland nach dieser Vorschrift nicht in Betracht.

9. Völkerrechtliche Verträge (§ 12 Abs. 4 StAG)

Diese Öffnungsklausel für völkerrechtliche Verträge, kann unter Umständen zu einer befristeten Hinnahme von Mehrstaatigkeit führen. Solche Verträge sind allerdings von der Bundesrepublik Deutschland nicht abgeschlossen worden, so dass auch hiernach eine Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit für die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland nicht in Betracht kommt.

10. Fazit

Bis auf die ältere Personen im Sinne des § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 StAG hat die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland nicht die Möglichkeit unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit eingebürgert zu werden. Sie sind gezwungen, sich für die eine oder andere Staatsangehörigkeit, zu entscheiden.

Ekrem Senol РK̦ln, 07.06.2005

2 Kommentare
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  1. Hallo Herr Senol,
    ich bin 1966 in D geboren und habe ca. 1989 die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und konnte durch die Aufschiebung meines Militärdienstes meinen Türkischen Pass bis zum 38.Lebensjahr verlängern. Nun möchte ich meinen Türkischen Pass abgeben, jedoch hieß es beim Konsulat, es sei nicht möglich weil ich meinen Militärdienst in der Türkei nicht gemacht habe. Ist dies überhaupt zulässig? Hätte ich damals dem Türkischen Konsulat über meine doppelte Staatsbürgeschaft kund getan, wäre es dann möglich gewesen? Ich habe von einigen Fällen gehört, jedoch keine klare Aussage über solche Entlassungen. Gibt es eine Möglichkeit die Türkische Staatsbürgerschaft abzulegen ohne den Militärdienst zu machen? Denn ich möchte schon in die Türkei reisen können ohne gleich festgenommen zu werden.
    Vielen Dank.
    T.T.

  2. Hallo Herr Senol,

    im Jahre 1997 habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Am 4.12.2003 habe ich von dem türkischen Konsulat die cikma izin belgesi erhalten. Am 05.12.2003 habe ich von der Einbürgerungsbehörde (durch vorlage der cikma izin belgesi) die deutsche Einbürgerunsurkunde erhalten.
    Im Dezember 2008 wurde ich erstmalig von der deutschen Behörde angeschrieben, dass die Ausbürgerung der Türkei noch fehlt ( ist bis heute noch nicht geschehen),

    Gibt es eine Möglichkeit beide Nationalitäten zu behalten? ( 5-Jahres-Frist, oder Nichtbescheidung (2 Jahres Frist) oder alte Gesetze in Jahr der Antragstellung 1997 ???

    Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir mehr Klarheit geben könnten.

    Mit freundlichen Grüßen

 

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