Abschied von Multikulti – Wege aus der Integrationskrise

5. Dezember 2006 | Von | Kategorie: Leitartikel | 6 Kommentare |

So heißt das neu erschienene Buch des Bremer Politikwissenschaftlers Stefan Luft (Resch-Verlag, München). Daten und Hintergründe zur Einwanderung – insbesondere aus der Türkei – hat er auf fast 500 Seiten zusammengefasst.

Auf das Buch wird in zahlreichen Zeitungen eingegangen, so auch der Berliner Morgenpost. „Deutschland in der Einwanderungsfalle“ ist die Ãœberschrift, unter der das Buch vorgestellt wird.

… Nur zehn Prozent der ausländischen Jugendlichen finden in der Hauptstadt eine Lehrstelle. Davon beendet nur jeder zweite die Ausbildung erfolgreich. 31 Prozent der Ausländer verlassen die Hauptschule ohne Abschluss. Jeder zweite Berliner Türke ist arbeitslos. Jugendliche nicht-deutscher Herkunft stellen in vielen Vierteln längst die Mehrheit.

Im Bezirk Mitte leben sechs von zehn Kindern mit ausländischer Staatsangehörigkeit von Sozialhilfe. Männliche nichtdeutsche Jugendliche werden im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil weitaus häufiger der Polizei bekannt als deutsche Altersgenossen, bei Gewaltkriminalität etwa 3,4 mal so oft, beim Straßenraub 3,6 Mal. 60 Prozent der türkischstämmigen Männer „importieren“ ihre Ehefrau direkt aus der Türkei, oft aus ländlichen Regionen, ohne Deutsch-Kenntnisse und ohne Vorstellung vom neuen Land. Die Kinder aus solchen Verbindungen seien „faktisch immer wieder erste Einwanderergeneration“, sagt Luft. …

Wo die Einheimischen bald in der Minderheit sein werden“ titelt die Welt und geht unter anderem auf Lösungsvorschläge ein, um das Dilemma zu durchbrechen:

Zuerst dürften die Probleme nicht länger schöngeredet werden. Die Schulen bräuchten Höchstgrenzen nichtdeutscher Kinder. Nichtdeutsche Schüler müssten über die gesamte Stadt verteilt werden, um Kontakt zu Deutschen zu bekommen.

Bezug von Kindergeld sei an Nachweis des Schulbesuchs zu koppeln, Kita-Essengeld sollte von Transferzahlungen abgezogen werden, damit die Eltern ihre Kinder auch dorthin schicken. Mehr Geld müsse in Ganztagsschulen und Kinderbetreuung in Problemkiezen fließen. Zuwanderer seien besser zu qualifizieren.

Zudem sei ein öffentlich geförderter Arbeitsmarkt notwendig, um den Menschen eine Gegenleistung für die Sozialtransfers abverlangen zu können. „Import-Bräute“ müssten noch im Herkunftsland deutsche Sprachkenntnisse nachweisen. Für Berlin und andere Großstädte sei eine neue Integrationspolitik existenziell, mahnt der Wissenschaftler.

In einem zweiten Artikel: „30 Jahre gescheiterte Einwanderungspolitik“ geht die Welt auf die Versäumnisse deutscher Integrationspolitik ein:

Die Zahl der Zuwanderer stieg nach dem generellen Anwerbestopp von 1973 überhaupt erst richtig an. In der Zeit von 1970 bis 1980 stieg die Zahl der Ausländer in Deutschland von 2,7 auf 4,6 Millionen. …

Kaum jemand weiß, dass die Anwerbung der Gastarbeiter 1955 – als es in Deutschland noch eine Million Arbeitslose gab – auch auf Betreiben des türkischen Staates zustande kam. „Die Türkei“, so schreibt Luft, „hatte ein erhebliches Interesse daran, einen Teil der rasch anwachsenden Bevölkerung befristet als Gastarbeiter ins Ausland zu schicken. Neben der Entlastung des eigenen Arbeitsmarktes versprach sie sich zu Recht dringend benötigte Deviseneinnahmen sowie einen Modernisierungsschub durch zurückkehrende Gastarbeiter, die sich entsprechende Qualifikationen angeeignet haben würden.“

Die deutsche Bundesregierung, die zuerst ein Anwerbeabkommen mit Italien und Griechenland geschlossen hatte, wollte sich dabei ursprünglich auf europäische Länder beschränken und sah gar keine Notwendigkeit zur Ausdehnung auf die Türkei. Aber diese pochte darauf: Man sichere die Südostflanke der Nato und wolle nicht gegenüber Griechenland zurückgesetzt werden.

Zwar führte in der alten Heimat die Binnenmigration anatolischer Bauern in die Großstädte zu denselben Problemen, wie sie Neukölln und Kreuzberg heute auch haben. Dass sich die deutsche Bundesregierung damals zur Anwerbung von Türken entschied – in deren Folge die Zahl der Ausländer in Deutschland von 700.000 (1961) auf drei Millionen (1971) stieg – ergab sich vor allem auf Drängen der deutschen Industrie. Und: Es war die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, die die Bundesregierung aufforderte, die im Anwerbeabkommen mit der Türkei festgelegte Befristung der Aufenthaltserlaubnis auf zwei Jahre, ein „Rotationsprinzip“, zu revidieren.

Alle Anzeichen, dass man damit einen dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik einläutete, wurden übersehen. „Damals“, so schrieb der frühere Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Josef Stingl (CSU) 1983, „haben Herr Schleyer und mit ihm die meisten Arbeitgeber eine solche Politik der der Rotation aber abgelehnt, weil er sagte, das kostet uns viel Geld, da müssen wir alle fünf Jahre neue Leute anlernen.

Ebenfalls lesenswert zum Thema ein Artikel in der Spiegel, wo die Einwanderungspolitik als „30 verlorene Jahre“ zusammengefasst wird.

Nicht ungelesen sollte allerdings ein Artikel aus der TAZ bleiben (Immer drauf auf Multikulti).

… Lufts Thesen, die sich gegen den Multikulti-Ansatz wenden, sind weder provokant noch neu.

Wenn Sie mich fragen, haut Thomas Schmidt in der Welt vom 05.12.06 den Nagel auf den Kopf:

Ein neues Buch von Stefan Luft bringt auch andere Verantwortliche ins Spiel: die Politik – nicht nur die linke – und die Wirtschaft. …

… Gerade die konservativen Parteien plädierten – im Grunde Multi-Kulti-nah – für die Bewahrung der „kulturellen Identität“ der Migranten. Sie wollten nicht, dass aus Ausländern Inländer werden. Die Desintegration in den großen Städten ist auch Folge einer Weigerung, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Und einer mangelnden Bereitschaft des – von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl geführten – Staates, sich der gesellschaftlichen Folgeprobleme der Einwanderung zu stellen. Einer Einwanderung, die von der Wirtschaft vor fast einem halben Jahrhundert aus rein ökonomischen Gründen in Gang gesetzt worden war.

Alan Posener, Kommentarchef der Welt am Sonntag, deckt dagegen Hintergründe auf und stellt Fragen, die Herr Luft in seinem Buch nicht stellt:

Stefan Luft hat diese Thesen schon 2002 im Auftrag der CSU entwickelt und bei der CSU-nahen Hans Seidel Stiftung veröffentlicht. Luft plädierte damals immer noch gegen die Bezeichnung Deutschlands als Einwanderungsland, gegen „Ökonomismus“ und Multikulturalismus und für Patriotismus als Gegengift.

… Brandt hat tatsächlich verhängnisvoll gehandelt, aber eben nicht durch das Hereinlassen von Türken, sondern durch den Anwerbestopp 1976, wodurch es – dank der konservativen Ablehnung kontrollierter Einwanderung in den Arbeitsmarkt – für Auslander nur noch möglich war, im Zuge des Familiennachzugs oder des Asyls nach Deutschland zu kommen, also in die Sozialsysteme. Ergebnis ist eine soziale Negativauswahl, die mit verantwortlich ist für den überproportional hohen Ausländeranteil an Arbeitslosigkeit, Schulversagen und Verbrechen, auf die Luft hinweist. Das ist eine Klassen-, keine Rassenfrage – oder sind ausländische Ärzte etwa überdurchschnittlich an Diebstählen beteiligt, ausländische Abiturienten überdurchschnittlich an jugendlicher Gewalt? Die Frage jedoch, ob das deutsche Schulsystem überhaupt darauf abgestellt ist, Ausländern eine Bildungschance zu geben, stellt Luft gar nicht. …

Luft mag sich gemäßigt geben, seine „schonungslosen Analysen“ sind populistische Propaganda.

Ekrem Senol РK̦ln, 05.12.2006

6 Kommentare
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  1. Da baut man einen Popanz auf – den Kindergeburtstagsbegriff „Multi-Kulti“ – um dann draufzudreschen.

    Etwas billig, die Rhetorik von Luft et al.

    ——————-

    Und wenn ich die Sozialpädagoginnenmaus erwische, die den sog. Begriff ursprünglich erträumt / erpendelt / per Channeling erfahren hat, dann hau ich sie, bis sie wieder zum Frosch wird.
    Aber das nur am Rande.

  2. @ Maria

    Ich habe mir das Buch vorgemerkt und werde sicher mal reinschauen, wenn ich die Zeit dazu habe. Meine jetzige Meinung darüber ist, dass der Autor sicherlich einige interessante Themen aufgreift. Insbesondere die Recherchen über die Geschichte der Arbeitermigration interessiert mich. Dort wurden die Grundsteine für die heutige Misäre gelegt. Dort wurden Fehler begangen Seitens der Politik und der Wirtschaft.

    Heute muss sowohl der Staat als auch die Wirtschaft Farbe bekennen und Auswege finden, die nicht nur darin liegen kann, zu fordern. Mal sehen, ob Luft fordert odern für das Fördern ist. Hoffentlich war es dem Autor unwichtig parteipolitische Auseinandersetzungen zu dokumentieren nach dem Motto: X hat gesagt und Y war dagegen und deshalb kam Z dabei raus, den die Ausländer ausbügeln müssen. Ich ahne aber nichts gutes.

  3. @ Ekrem Senol

    In der Morgenpost stand einiges über den Inhalt.
    Vor allem zum letzten Teil, Handlungskonzepte, würde mich Ihre Meinung interessieren. Ich glaube Sie sind da gar nicht so weit von Luft weg, wie Sie denken 😉

    Stefan Luft, Politikwissenschaftler aus Bremen, legt in drei Abschnitten eine schonungslose, offene Analyse vor, die uns nach langen Jahren der Selbsttäuschung zeigt:

    * Integration erfordert Mut – Mut, zunächst einmal die Fakten wahrzunehmen.

    * Wer Zuwanderung will, muss dafür Voraussetzungen schaffen und Probleme lösen, damit die Integration in die Gesellschaft überhaupt gelingen kann.

    * Die unkontrollierte Zuwanderung von Ausländern hat in deutschen Großstädten zu katastrophalen Verhältnissen von manchen Schulen und Stadtteilen geführt.

    Der erste Abschnitt beschreibt die Interessen der deutschen Wirtschaft und des türkischen Staates an Zuwanderern nach Deutschland, die eben oft keine „Gastarbeiter“ waren, sondern auf Dauer bleiben wollten.

    Der zweite Abschnitt widmet sich den Problemen in Stadtteilen, die in einen Teufelskreis kippen und dort nicht wieder herauskommen: Ausländer ziehen zu Ausländern in einen Stadtteil, prägen dort den Alltag, Deutsche ziehen weg, die Mieten sinken, noch mehr Ausländer ziehen zu … „Ethnische Kolonien“ nennt das der Fachmann…

    Im dritten Abschnitt geht es um die „neue Bildungskatastrophe“ in Schulen, deren Schüler überwiegend nicht Deutsch als Muttersprache sprechen. Dieses Problem ist den Familien vor Ort und den Behörden bekannt, nur wurden daraus bisher keine konsequenten Folgerungen gezogen…

    Der letzte Teil des Buches gibt auf die Frage, wie Integration gelingen kann, vor allem zwei Antworten: Zuwanderung muss gesteuert und begrenzt werden, und: Die Städte sollten alles daran setzen, die ethnisch-sozialen Konzentrationen nicht weiter verfestigen und voranschreiten zu lassen.

  4. @ Maria

    Die Beantwortung der Frage, wie Integration gelingen kann, würde hier wohl den Rahmen sprengen. Aber Sie haben Recht. Lufts Ansichten würde ich in dieser Form nicht widersprechen. Die Zuwanderung muss gesteuert und begrenzt werden. Nur würden mich die Details interessieren. Strikt gegen die Begrenzung und Steuerung bin ich allerdings, wenn das zu Lasten von Grundrechten geht.

    Zu den Ghettos: Auch dem stimme ich zu. Allerdings brauchte es zu den heutigen Zuständen fast 50 Jahre! Mindestens eine Generation wird es dann auch brauchen, vorausgesetzt es würden die Grundsteine heute gelegt werden, bis das Problem gelöst werden kann. Sozial erfolgreiche Ausländer, wohnen meist nicht in diesen Ghettos und wollen es auch nicht. Daraus sollten die richtigen Schlüsse gezogen werden.

  5. Eine konkrete Idee, die von Luft angesprochen wird, ist das School-Bussing wie in den USA. Das ist wahrscheinlich die einzig realistische Methode, um hier „schwarze Schulen“ wie in den Niederlanden zu verhindern.
    Das würde aber der deutschen Mehrheitsgesellschaft wirklich an die Nieren gehen.

  6. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass man einem Volk so gut wie alles verkaufen kann, wenn im Vorfeld die Weichen gestellt werden. Es stimmt aber, aktuell würde das der Mehrheitsgesellschaft auf die Nieren gehen. Insbesondere wegen der Weichenlegung in den letzten Jahren.

 

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